Liebe Mitschreibende,
ich bin neu auf dieser Seite und dies ist mein erster Beitrag. Ich bin 22 Jahre alt und einer der ersten Jahrgänge, die von Anfang an mit der Neuen Rechtschreibung großgeworden sind. In den letzten Jahren habe ich mich jedoch aus privatem Interesse mit dem Streit um die Reform von 1996 beschäftigt.
Brennessel oder Brennnessel? Ich würde gern eure Meinung hören, ob ich mich mit den folgenden Gedanken zu weit „hinauslehne“, oder ob ähnliche Argumente auch von Fachleuten bereits zu diesem Thema vorgebracht wurden (Wenn ja, würde mich interessieren, von welchen – so bewandert bin ich in der Literatur zu diesem Thema nicht).
Wilhelm Grönbech schreibt in seinem berühmten Buch „Kultur und Religion der Germanen“ (s.u.) über das vorrömische bzw. vorchristliche, naturreligiöse Denken:
Die Vorstellung von einem Wolf oder einem Adler wird von all den gehäuften Erfahrungen gebildet, die zu verschiedenen Zeiten über Leben und Charakter, Gewohnheiten und Aussehen, Wille und Triebe der betreffenden Tiere gemacht worden sind. Und so steht das Tier als ein untrennbares Ganzes da, es lebt sein Leben ohne Rücksicht auf einen Platz in einem klassifizierenden System, es besitzt seine Glieder und ihre Eigenschaften auf eine weit unbedingtere Weise als heutzutage. Denn der Gedanke war so vollkommen von der Vorstellung der Einheit beherrscht, daß ihm jede Neigung fehlt, die Welt im Querschnitt aufzufassen, indem er z.B. das Tierreich als Köpfe, Körper, Beine, Schwänze analysierte […]. Die einzelnen Teile haben gar nicht die unabhängige Wirkung in sich, die erforderlich ist, um solche Wortformeln herzustellen wie „Bein“ oder „Kopf“; der Kopf wird nur gedacht als […] ein Hundekopf oder ein Wolfskopf oder irgendeine Varietät von Kopf.
Zum Thema führt mich der letzte Satz dieses Zitats in folgenden Variationen: „Die Nessel wird nur gedacht als Brennessel oder Taubnessel oder irgendeine Varietät von Nessel / Das Tuch nur als Bettuch oder Tischtuch oder irgendeine Varietät von Tuch/ Das Loch nur als Schalloch oder Quelloch oder irgendeine Varietät von Loch.“
Die heute vorgeschriebene Schreibung mit Dreifachkonsonanten betont die Klassifikation, weil sie die Zugehörigkeit etwa von „Schallloch“ und „Quellloch“ zur Gruppe der Löcher, die der „Brennnessel“ zur Gruppe der Nesseln usw. optisch hervorhebt. Damit, so scheint mir, drängt sie das einfache, unmittelbare Sehen, das Brennessel, Wollaus, Schalloch und Quelloch zuallererst in ihrer Ganzheit faßt, zugunsten eines verarmten, rationalistischen Blicks auf die Welt zurück. Wird die Brennessel nur noch als „Brenn-Nessel“ wahrgenommen, kann man sie eigentlich nur noch niedertreten, weil sich ihr Wesen im Grunde darin erschöpft, dem Menschen auf der Haut zu brennen, eine „Brennessel“ hingegen hat noch so etwas wie ihr eigenes kleines Geheimnis, das sich in ihrem herben Dunkelgrün, in der pelzigen, gezackten Form ihrer Blätter ebenso wie in ihrem Brennen, aber auch im Geschmack und der wohltuenden Wirkung des Brennesseltees offenbart.
Mit dem letzteren, noch nicht völlig „entzauberten“ Blick auf die Dinge geht ein Denken einher, das nicht immer gleich darauf aus ist, allen Dingen einen bestimmten Zweck, einen bestimmten Dienst, den sie dem Menschen zu erweisen haben, zuzuordnen, sondern ihnen so etwas wie eine eigene Seele zubilligt. Ich meine das Denken und Fühlen kleiner Kinder, die einen Rolladen hundertmal hoch- und runterziehen, oder hundertmal an einem Laken zupfen können – aus reiner Freude daran, wie der Rolladen „rolladenrolladenrolladen“ macht und das Bettlaken beim Zurückschnellen „Bettuch! Bettuch!“ flüstert. Wenn man die Dinge so ansieht, wird deutlich, daß Wörter eben nicht einfach zweckmäßige Konstruktionen aus Wortbestandteilen sind, sondern stark von der ganz einfachen, lautlichen Nachahmung der Welt geprägt sind.
Überlegungen wie die, daß das Bettuch seinen Wert nur aus der Möglichkeit, es aufs Bett zu spannen, der Rolladen seinen technischen Vorzug aus seiner Aufrollbarkeit beziehe, stehen für diese Art des Denkens nicht im Vordergrund. Dieses ganzheitliche Anschauen, das für naturreligiöse Zeiten selbstverständlich war, birgt etwas, das geeignet ist, der Schnellebigkeit und der Naturentfremdung, die mit einer kapitalistischen Gesellschaft einhergehen, Widerstand zu leisten. Ein „Bettuch“ zum Beispiel muß man im Gegensatz zu einem „Betttuch“ nicht gleich wegschmeißen, wenn es nicht aufs Bett paßt, weil es dadurch noch nicht alles Wesentliche verliert, sondern man kann auch noch eine Vogelscheuche oder ein Kostüm daraus machen.
Die rein klassifizierende, rationalistische Weltbetrachtung hat ihren angestammten und guten Platz im Wissenschaftslatein, wo Familie, Gattung und Art sorgfältig getrennt voneinander benannt werden. Was aber gibt es für einen Grund, sie in die deutsche Alltagssprache hineinzuziehen? Unser Jahrhundert steht vor ungeheuren Herausforderungen, was das Wiedererlernen von Achtung vor der Natur betrifft. Wenn wir vor diesem Hintergrund unseren Kindern verbieten, z.B. „Brennessel“ und „Wollaus“ zu schreiben, was sie vielleicht unwillkürlich als natürlicher empfinden, laufen wir dann nicht Gefahr, ihnen etwas ungeheuer Wichtiges, den respekt- und liebevollen, ganzheitlichen Blick auch auf alles nicht menschliche Dasein, auszutreiben, anstatt es zu fördern?
Der zähe Widerstand gegen die Naturentfremdung, den zergliedernden Rationalismus und das Zweckmäßigkeitsdenken, welche für die römische Kultur charakteristisch waren, zieht sich durchgängig seit der Germanenzeit durch die deutsche Geistes-, Rechts- und Sozialgeschichte und kommt noch etwa in den Streitschriften eines Otto von Gierke gegen den ersten, romanistischen Entwurf des BGB zum Ausdruck. Hier ist es die vom Römischen Recht ausgehende rationalistische Zersetzung von Verbands- in Einzelinteressen, welche bekämpft wird. Der Zusammenhang zwischen dem Denken, das Verbände nicht in Individuen und dem, das Wörter nicht in Wortbestandteile zersetzt wissen will, ist aber gar nicht so lose und weithergeholt, wie er zunächst erscheinen mag. Sind etwa Schiffahrtsinteressen nur Schiff-Fahrts-Interessen – also nur koordinierte Einzelinteressen von Individuen, die gerne Schiff-Fahrten unternehmen wollen, oder hat die Schiffahrt als solche, als ganze, eigene, personenunabhängige Interessen, die einen Ausfluß des Gemein- oder Staatsinteresses darstellen? Wer dem letzteren Verständnis Ausdruck verleihen möchte, für den wäre die Schreibung „Schiffahrtsinteresse“ sicher vorzuziehen, weil die Schiffahrt so geschrieben etwas Anderes darstellt als bloß das Fahren mit dem Schiff – nämlich die Gesamtheit des Verkehrs zu Wasser – einen zusammenhängenden, untrennbar in eins zu denkenden Komplex mit einem Verbandsinteresse, der vom Gemeinwillen in einer Gesellschaft hervorgebracht wird. Zu all diesen Themen gäbe es sicher noch viel zu sagen, aber ich sehe, daß mein Beitrag schon eine für die Maßstäbe dieser Seite eigentlich unverschämte Länge erreicht hat.
Viele Grüße an alle Leser,
Moritz Mayer
Literatur zu diesen Themen:
Grönbech, Wilhelm: Kultur und Religion der Germanen, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1954
Gierke, Otto von: Der Entwurf eines deutschen bürgerlichen Gesetzbuchs und das deutsche Recht, Duncker & Humblot Reprints 2013;
außerdem: Das deutsche Genossenschaftsrecht. 4 Bde. Berlin 1868, 1873, 1881, 1913
Zum römischen bzw. römischrechtlichen Individualismus und Zweckmäßigkeitsdenken:
Jhering, Rudolf von: Der Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. 4 Bde, Breitkopf & Härtel, Leipzig 1852-1865